Ein Interview mit Matt Groom

Der Krieg in der Ukraine ist fast jeden Tag in den Nachrichten zu sehen. Die Bilder zeigen ein Land im Ausnahmezustand. Bei so viel Zerstörung, Verzweiflung und Unsicherheit scheint es keinen Raum für Normalität zu geben – und schon gar nicht für Freizeitgestaltung. Oder etwa doch?

Genau diese Frage beschäftigt den britischen World-Cup-Kommentator und Journalisten Matt Groom. Wie wichtig ist Klettern - und wie wichtig kann oder darf der Sport überhaupt sein, wenn draußen die Sirenen heulen und der nächste russischen Angriff ansteht?

Die Antwort auf seine Frage rückt für Matt in greifbare Nähe, als sich die Gelegenheit bietet, mit dem ukrainischen Speedkletter-Champion Danyil Boldyrev einen Kletterwettkampf in Kyiw zu besuchen.

Im Film Climbing Never Die, der aktuell auf der Reel Rock Film Tour 18 zu sehen ist, hat Matt seine Reise dokumentiert. Im Interview teilt er seine Eindrücke und erzählt mehr über die Entstehungsgeschichte des Films.

Über Matt Groom

Matt Groom kommt aus Großbritannien und ist IFSC-World-Cup- und Olympia-Kommentator. Er moderierte lange auf dem YouTube-Kanal EpicTV Climbing Daily, hat aber vor einigen Monaten dort aufgehört, um sich neuen journalistischen Herausforderungen zu widmen.

Woher kam die Idee für diesen Film und wie und wo bist du mit dem Krieg in der Ukraine konfrontiert worden?

Die Idee hatte ich schon länger im Kopf, weil ich als World-Cup-Kommentator über die ukrainischen Sportler:innen berichtet habe. Dann habe ich gelesen, dass in Odessa eine neue Kletterhalle eröffnet wurde. Das habe ich nicht verstanden. Warum sollte man mitten im Krieg eine Kletterhalle eröffnen? Wer würde da überhaupt hingehen wollen? Und dann hörte ich auch noch das Gerücht, dass die ukrainischen Kletterer:innen in ihr Land zurückkehren sollten, um an einem nationalen Wettkampf teilzunehmen.

Einer dieser Kletter:innen ist Danyil Boldyrev. Er hatte die Ukraine zu Kriegsbeginn verlassen und dann 2022 bei den European Championships 2022 in München eine Goldmedaille gewonnen…

Ja, Danyils Sieg war ein sehr emotionaler Moment. Hinterher habe ich ihn gefragt, ob er zu diesem Wettkampf in die Ukraine fahren würden. Er wollte nicht, aber er bot mir an, mich dorthin zu begleiten.

Warum hast du gesagt: Ja, das machen wir. Warum wolltest du mit in die Ukraine?

Ich habe mich gefragt: Wie passt das zusammen? Auf der einen Seite ist da ein Krieg, eine elende und schlimme Sache. Und auf der anderen Seite das Klettern, mit dem ich aus eigener Erfahrung hauptsächlich positive Dinge verbinde. Das Aufeinandertreffen dieser Gegensätze fand ich interessant. Deshalb wollte ich da hin. Gleichzeitig hatte ich mit der Frage zu kämpfen: Hat das auch irgendeine Bedeutung? Es ist ja schön, dass dort nach wie vor geklettert wir, aber wen interessiert das schon und hat es überhaupt eine Relevanz?

Diese Fragen stehen auch im Zentrum deines Films – und jetzt läuft „Climbing Never Die“ in der Reel Rock. Wie kam es dazu?

Ende August 2022 gewann Danyil seine Goldmedaille und mir war klar, dass ich mit ihm in die Ukraine reisen musste. Aber für dieses Projekt brauchte ich ein bisschen Unterstützung. Deshalb habe ich Anfang Oktober bei der Reel Rock angerufen. Sie sagten mir, dass sie sich für die Geschichte interessieren. Also habe ich einen furchtbaren, improvisierten Pitch geschrieben, um ihnen meine Idee vorzustellen. Ich hatte ja keine Ahnung, was ich in der Ukraine vorfinden würde. Die Abmachung war dann, dass ich erstmal hinfahre und wir nach meiner Rückkehr entscheiden, ob sich aus meinem Material etwas machen lässt.

Wie hat Danyil dich bei der Umsetzung des Filmprojekts unterstützt?

Danyil war großartig. Er hat mir während der Dreharbeiten den Rücken freigehalten. Denn eigentlich hatte ich gar keine offizielle Erlaubnis, um dort zu sein. Meinen Presseausweis habe ich erst bekommen, als ich schon längst wieder zu Hause war – drei Monate zu spät! Ein paar Mal wurde es heikel, weil ich unerlaubt zerstörte Gebäude filmte. Danyil fungierte dann als Puffer zwischen mir und der Polizei.

Bei dem Kletterwettkampf in Kyiv hast du Ksenia Zakharova kennengelernt. Sie ist die Stieftochter des Alpinisten Oleksander Zakolodny, der eine Legende in der ukrainischen Kletterwelt ist, und an zu diesem Zeitpunkt an der Front kämpfte. Sie hat dich gebeten, ihm eine Nachricht zu überbringen. Wie habt ihr es geschafft, dorthin zu reisen?

Ich habe zu Danyil gesagt: „Danyil, Ksenias Vater ist an der Front. Können wir ihn da irgendwo finden?“ Er musste erstmal schnaufen und ist weggegangen, um zu telefonieren. Und als er zurückkam, sagte er: „Ja, okay, das können wir machen.“ Es war unglaublich, was er alles hinbiegen konnte! Ohne ihn wäre nichts möglich gewesen. Ich spreche ja kein Ukrainisch und in diesem Land, in dieser Gesellschaft, läuft einfach alles über Beziehungen - vor allem während des Krieges. Danyil hat sich um alles gekümmert, er hat sich dabei auch noch selbst in Gefahr gebracht. Das Projekt war ihm so wichtig.

Konntest du unter diesen Umständen überhaupt etwas vorher planen? Oder hat sich das meiste einfach vor Ort ergeben?

Das ist eines der interessanten Dinge an diesem Film: Ein unglaublich großer Teil davon war einfach nur Glück. Es war nicht geplant, dass ich Ksenia in der Kletterhalle treffe. Aber dieses 16-jährige Mädchen hat sofort mein Interesse geweckt. Es war ganz erstaunlich, wie offen sie und die anderen ukrainischen Kletterer waren, wie sie mich in ihr Leben hineingelassen haben - obwohl ich nur ein Besucher war, der dort mal kurz vorbeigeschaut hat. Sie wollten ihre Geschichten mit mir teilen. Sie wollten der Welt zeigen, was in der Ukraine passiert. Ich denke, es gibt dort dieses Gefühl, dass Europa die Ukraine manchmal vergisst oder nicht versteht, was dort passiert. Und das stimmt wahrscheinlich auch. Der Krieg dauert schon so lange. Aber wenn die Menschen den Film sehen und die Geschichten dahinter verstehen, dann habe ich viel erreicht.

Im Film scheint es so, als setzten die Kletter:innen alles daran, dass ihre Kletterhallen ein Rückzugsort vor dem Krieg bleiben. Aber gibt es in der Ukraine überhaupt noch ein Gefühl von Normalität?

Ja, es gibt eine Normalität, aber diese Normalität ist miserabel: Es ist kalt, dunkel und dauernd fällt der Strom aus. Ohne regelmäßigen Strom läuft nicht viel: Es gibt kein Internet, kein Fernsehen – und auch keine Zukunft. Das zermürbt einen. Die Fliegeralarme und Angriffe auf die Stadt waren konstant, aber im Film sieht man das gar nicht. Ich habe das intensive Heulen jedes Mal gefilmt, aber am Ende ist nur ein Bruchteil davon im Film gelandet. Und irgendwann verliert das Geräusch einfach seine bedrohliche Wirkung.

Warst du erleichtert, als deine Rückreise anstand?

Im Gegenteil, ich war ziemlich unglücklich. Es fühlte sich so an, als würde ich weglaufen. Und ich wusste, dass ich nach dieser intensiven Erfahrung in ein Loch fallen würde. Es war nicht leicht, zurückzukommen - und das ist es noch immer nicht. Darum würde ich gerne so bald wie möglich wieder in die Ukraine reisen. Ich möchte fortsetzen, was ich angefangen habe. Als Journalist ist es mein Job, Dinge aufzudecken - und dort wartet noch so viel.

Climbing Never Die ist Teil der Reel Rock 18.